Petra Oelschlägel
Fließen – Schweben – Verdichten
Bemerkungen zur Malerei von Anette Haas
Auszüge aus dem Text in:
Katalog 16. Anette Haas.
Herausgegeben vom Künstlerdorf Schöppingen e. V. , 1993

Schlägt man in einer deutschen Enzyklopädie den Begriff Malerei nach, so kann man lesen, dass sie im Gegensatz zu den dreidimensionalen Künsten Architektur und Plastik als „Flächenkunst“ gilt (1) . Dieser Begriff erscheint angesichts jahrhundertewährender räumlich-illusionistischer Malerei als fragwürdig, im Falle der Kunst von Anette Haas jedoch als geradezu falsch, da ihre Malerei Räumlichkeit nicht nur verheißt, sondern real erfahrbar macht.

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Die Bearbeitung der Leinwände fordert aufgrund ihrer Dimensionen von Anette Haas nicht nur physischen Einsatz sowie wechselndes Abstandnehmen und Annähern, sondern erlaubt ihr, die gesamte, weitausholende Körpergestik ins Bild aufzunehmen. Die Leinwand wird Träger dieses Ausdrucks und Projektionsfläche für im Gleichgesicht befindliche Kräfte. So stehen Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik, Transparenz und Dichte oder aber Offenheit und Geschlossenheit in spannungsvoller Koexistenz. Es gibt in ihren Bildern Partien, in denen dieses Gleichgewicht erreicht und die Existenz von Polaritäten nicht mehr sichtbar ist. In anderen Bildpartien ist das Aneinanderreiben konträrer Kräfte in einer vibrierenden Farbfläche zu spüren, die das Auge nicht zur Ruhe kommen lässt. Vorherrschend ist jedoch der Eindruck von zu harmonischer Ganzheit überführten Kräften.

In den Gemälden der Künstlerin wird Aktivität sichtbar gebremst, nicht aber unterbunden oder gar in einen Stillstand überführt. Wie in „Oltremare/Vermiglione“ (1990) baut sich die Farbigkeit zumeist auf einem differenzierten und modulierten rot-blau-Kontrast auf. Gerade diese beiden emotional und ikonographisch stark besetzten Farben verbindet Anette Haas in ihren an sakrale Tafelgemälde erinnernden Bildern wiederholt. Bezogen auf die Technik arbeitet die Künstlerin traditionell: Sie spachtelt, rollt oder schüttet die Farbe nicht, sondern malt mit dem Pinsel, da ihr an einem dünnen und präzisen Auftrag gelegen ist. In einigen ihrer Bilder verwendet sie neben Acrylfarben auch Bienenwachs, welches sie entweder als Grundierung oder abschließend, einem Fixierprozess vergleichbar, aufträgt.

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Auf die großformatigen Leinwände hingegen, die die Künstlerin über Wochen und zum Teil Monate beschäftigen, sind die Farben von ihr nicht nur schichtweise aufgetragen, sondern partiell auch ausgewaschen. Auf diese Wese erreicht Anette Haas ohne harte Übergänge Tiefenillusion und Dichte in der gewünschten Art. Trotz der Formate ist sie somit in der Lage, den Eindruck von Leichtigkeit und das scheinbare Schweben einzelner Bildpartien herbeizuführen. Dies wird in „Schöppinger Berg“ besonders deutlich: Einem magnetisch aufgeladenen Feld vergleichbar, verdichtet sich die schwebende und fließende Ruhe der Farbflächen im dunklen „Berg“ in der Bildmitte. Es entsteht ein Farblicht, welches über die faktische Farbmaterialität hinausgeht und ein Spannungsverhältnis zwischen Betrachter und Bild erzeugt.

So, wie sie bereits für eines ihrer ersten Gemälde “Terra di Siena bruciata“ (1990) ein Format von 275 x 710 cm gewählt hat, wägt sie Format und Inhalt stets ab und arbeitet experimentierend von Werk zu Werk. Sie erschließt Formen und Formate, die zum Teil vom traditionellen Tafelbild wegführen, stärker den Raum betreten und somit eine andere physische Präsenz im Raum einnehmen. „Red & Blue“ (1992), mit Anspielung auf die legendären Gemälde „Who´s afraid of yellow, red and blue?“ von Barnett Newmann, ist ein Gemälde, welches in eine Raumnische gespannt wird. Durch die Maße von 300 x 600 x 300 cm wird dieser Raum nicht nur bestimmt, sondern auf gestimmt. Noch deutlicher wird der raumgreifende, die traditionelle Malerei hinterfragende Ansatz in „Tuch. Rot.“ (1992), einer innenseitig bis zur Auflage am Boden bemalten Stoffbahn, die – einer Tasche vergleichbar – von der Decke herabhängt. Abhängig vom Lichteinfall strahlt die aufgetragene Farbe in Rotschattierungen an die Wand und durch die gegenüberliegende Bahn in den Raum. Die Wand ist nicht mehr Präsentationsfläche des Bildes, sie wird als Bestandteil eines größeren Kontinuums erkannt. Das Gemälde hingegen wird zum realen Farbkörper, der einer Skulptur in seiner physischen, weil dreidimensionalen Präsenz ähnelt.

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Anette Haas schafft es, in einer meditativen Weise des Malens Werke von starker innerer Kraft entstehen zu lassen, die als herausragender Beitrag zur heutigen Malerei zu bezeichnen sind. Vibrierende Farbfläche wie in „Schöppinger Berg“ transformieren die Leinwand in ein Energiefeld, dem sich der Betrachter, der sich angesichts der Bildformate ohnehin bewegen und die Leinwand erwegen muss, nicht entziehen kann; er wird Teil eines Farbraumes. Die Malerei von Anette Haas ist von einer Dramatik geprägt, die sich an der Vielschichtigkeit der Farbe ablesen lässt. Farben überlagern einander in mehreren Schichten, so dass der Bildträger unsichtbar und unermessliche Tiefe fühlbar ist. Sinnliche Präsenz und Mythisches führen auch nach der Abkehr von ihren Arbeiten zu meditativen Nachbildern.


Aus:
Petra Oelschlägel,Fließen – Schweben – Verdichten. Bemerkungen zur Malerei von Anette Haas.
in:
Katalog 16. Anette Haas.
Herausgegeben vom Künstlerdorf Schöppingen e. V. , 1993


(1) Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Bd. 13, Mannheim 1987, S. 247
© Petra Oelschlägel
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